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Pannen mit Pilzen
Nr. 1/ 2007 l online academy l
Pannen mit Pilzen l Toxikologie
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Pannen mit Pilzen l Toxikologie
René Flammer
FPH-Nummer: 1-162-30-07-P6.25
Veranstaltungsnummer BAK: 2007/015
Lernziele
} Sie sind vertraut mit der Triage bei Pilzvergiftungen und den Notfallmassnahmen. Eine korrekte
Triage ist zunächst ohne mykologische Kenntnisse möglich.
} Sie lernen anhand eines Grobrasters, basierend auf den ersten Symptomen und der Latenzzeit
(Zeit zwischen Pilzmahlzeit und ersten Symptomen), die potenzielle Gefährlichkeit einer Ver-
giftung einzuschätzen.
} Sie wissen, dass man sich mit einer Indiziendiagnose nicht zufrieden geben darf. Deshalb muss
mit einem Feinraster versucht werden, die Diagnose einzuengen. Über www.vapko.ch
(Massnahmen bei einer Pilzvergiftung) oder das Tox-Zentrum, Tel. 145, können in der Schweiz
momentan etwa 50 Pilzexperten, die mit der makroskopischen und mikroskopischen Analyse
von Resten der Pilzmahlzeit und den Vergiftungstypen vertraut sind, abgerufen werden.
} Sie wissen, dass Brechdurchfälle nach Pilzgenuss vor allem bei Latenzzeiten von mehr als vier
Stunden bis zum Beweis des Gegenteils als Knollenblätterpilzvergiftungen einzustufen und
unverzüglich dementsprechend zu behandeln sind.
} Sie gehen nicht fehl, wenn Sie bei allen Vergiftungen sofort Medizinalkohle verabreichen. In der
Latenzphase einer Knollenblätterpilzvergiftung sind Magenspülungen angezeigt. Sie nehmen
Abstand von den obsoleten Massnahmen des provozierten Erbrechens mit Kochsalz (Gefahr der
Kochsalzintoxikation bei Kindern) und Ipecacuanha.

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Zusammenfassung
Die meisten der häufigeren Pilzvergiftungen manifestieren sich in Form von Brechdurchfällen. Bei langen Latenzzeiten
von mehr als 4 Stunden (in der Regel 8-12 Stunden) zwischen Mahlzeit und Ausbruch der Brechdurchfälle ist eine
potenziell tödliche Vergiftung mit amanitinhaltigen Pilzen ins Auge zu fassen. Häufig muss man sich zunächst mit einer
Indiziendiagnose zufrieden geben. Die Mortalität lässt sich stark senken, wenn auch Verdachtsfälle unverzüglich wie
ein Phalloides-Syndrom behandelt werden. Wenn sich makro- und mikroskopisch keine Hinweise für eine Amanitinver-
giftung ergeben und/oder der Amanitinnachweis im Urin mit einem ELISA (Testdauer 1-2 Stunden, zusätzlich Trans-
portzeiten in ein Speziallabor) negativ ausfällt, kann das Phalloides-Programm abgesetzt werden. Dank Früherfassung,
Fortschritten der Intensivmedizin und Möglichkeiten der Lebertransplantation ist die Mortalität der Knollenblätterpilz-
vergiftung in den letzten Jahrzehnten massiv zurückgegangen. Einzig in Ländern, die noch nicht über westliche
Standards verfügen, sterben immer noch bis 20% der Erwachsenen und 50% der Kinder infolge Leber- und Multiorgan-
versagens. Meistens handelt es sich um verschleppte Fälle.
Brechdurchfälle mit kurzer Latenz von weniger als 4 Stunden werden durch einige Dutzend obligat toxischer Pilze ver-
ursacht, die im Sammeltopf der gastrointestinalen Intoxikation zusammengefasst werden. Trotz der oft dramatischen
Symptomatik ist die Prognose gut, wenn dem Wasser- und Salzhaushalt die nötige Aufmerksamkeit geschenkt und
Kohle verabreicht wird. Die Abgrenzung gegenüber der Pilzindigestion ist fliessend. Pilze sind hauptsächlich wegen
ihres Chitingehaltes schwer verdaulich. Art der Zubereitung, individuelle Empfindlichkeiten, Rohgenuss und bakterielle
Kontaminationen müssen ebenfalls erwogen werden. In der Regel sind die Symptome weniger dramatisch als bei der
gastrointestinalen Intoxikation mit obligaten Giftpilzen, beschränken sich oft auf Bauchkrämpfe und Übelkeit, Erbrechen
oder Durchfälle, wobei die Latenzzeiten zwischen 15 Minuten und 24 Stunden schwanken können. Die Abgrenzung
gegenüber Pilzallergien ist nur in Fällen mit eindeutiger Reproduktivität der Symptome möglich. Das Pantherina-
Syndrom (Panther- und Fliegenpilz) und das Psilocybin-Syndrom (Drogenpilze) imponieren als Rauschzustand mit affek-
tiver Inkontinenz, Störung der Koordination, paranoiden Episoden, Desorientierung und Halluzinationen.
Gar nicht selten ist das Coprinus-Syndrom nach Verzehr von Faltentintlingen, wenn innerhalb von drei bis vier Tagen
nach der Mahlzeit Alkohol genossen wird. Die Symptome entsprechen einer Antabusreaktion. Die sieben hier erwähnten
Syndrome können als klassische Pilzvergiftungen bezeichnet werden. Die übrigen Syndrome sind in unseren Breiten
selten bis sehr selten. Einige davon wurden wahrscheinlich jahrzehntelang übersehen, weil sie nicht unter dem
«klassischen» Vergiftungsbild mit Brechdurchfällen und Rauschzuständen erscheinen und/oder ungewöhnlich lange
Latenzzeiten von Tagen bis Wochen aufweisen. Bei einem Konsum von 3 kg Wild- und Zuchtpilzen pro Kopf und Jahr
ist es angebracht, bei unklaren Krankheitsbildern auch nach kulinarischen Gewohnheiten mit Pilzgerichten zu fragen.

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Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist eine aktualisierte Kurzfassung
des Buches Flammer/Horak [1].
In Westeuropa sind etwa 6000 Pilze ab einer Wuchshöhe
oder einem Durchmesser von etwa 0.5 cm bekannt. Jahr
für Jahr werden neue Arten entdeckt und beschrieben,
altbekannte Arten neu klassiert und umbenannt. Moleku-
lare Analysen werden auch weiterhin zu taxonomischen
Korrekturen führen.
Von den erwähnten 6000 Pilzen gelten etwa 200 Arten als
Speisepilze, ebenso viele als Giftpilze. Die übrigen Arten
können nicht als Speisepilze empfohlen werden, da es sich
dabei um sehr kleine und/oder schwer bestimmbare Arten,
Pilze von zäher Konsistenz, von wenig einladendem
Geruch und Geschmack sowie seltene Arten handelt.
Nebenbei sei auf die enorme Bedeutung der Pilze beim
Recycling organischer Substanzen, bei der Verwitterung
von Gestein, bei der Humusbildung und der Symbiose mit
Bäumen, Sträuchern und Stauden hingewiesen. Von der
Möglichkeit der Pilze, Spurenelemente zu erschliessen,
profitieren Pflanzen, Tier und Mensch. Problematisch sind
Pilze, die Schwermetalle wie Cadmium, Blei, Quecksilber
und radioaktives Caesium anreichern. Akute Vergiftungen
sind nicht zu erwarten. Die Kontaminationen mit Schwer-
metallen spielen nur im Rahmen der gesamten Umwelt-
belastung als Teilfaktoren eine Rolle.
Die 16 Vergiftungs-Syndrome
Pilzvergiftungen sind eher seltene Ereignisse. Diesbezüg-
liche Anfragen am Tox-Zentrum in Zürich bewegen sich in
der Grössenordnung von 300 – 500 pro Jahr, wobei 1/3
der Anfragen von Ärzten kommt [2]. Da 95% aller Pilz-
todesfälle auf das Konto amanitinhaltiger Pilze gehen,
lautet die zentrale Frage: Handelt es sich um ein Phalloides-
Syndrom (Vergiftung durch Grüne und Weisse Knollen-
blätterpilze, einige kleine Schirmlingsarten und Gifthäub-
linge)? Schwere akzidentelle Vergiftungen sind in der
Schweiz dank amtlicher Pilzkontrollen, Sensibilisierung
der Bevölkerung, pilzarmer Jahre und Zerstörung mancher
Pilzgründe selten geworden. Früherfassung, Intensivmedi-
zin und Lebertransplantationen haben wesentlich zur
Reduktion der Mortalität beigetragen. In den letzten fünf
Jahren verstarben in der Schweiz drei Patienten an den
Folgen einer Amanitinintoxikation (einmal akzidentell,
zweimal suizidal). Auf den 36 Pilzkontrollstellen des
Kantons Zürich wurden 2004 6.7 kg und 2005 4.2 kg
amanitinhaltige Pilze, vor allem Grüne Knollenblätterpilze,
beschlagnahmt [3].
In Westeuropa ist pro Jahr höchstens mit einem Todesfall
auf 10 Mio. Einwohner zu rechnen, dazu kommen 10 –
50 Vergiftungen durch amanitinhaltige Pilze und einige
Tausend harmlose, echte und unechte Vergiftungen (Indi-
gestionen). Eine Meldepflicht besteht nicht und das Feed-
back unter den involvierten Stellen lässt oft zu wünschen
übrig. So verlaufen viele Unbekömmlichkeiten und leich-
tere Vergiftungen im Sand und man sieht keinen weiteren
Handlungsbedarf.
Die grobe Zuordnung einer Vergiftung zu einem der 16
Syndrome (Tabellen 1 und 2) erfordert keine mykolo-
gischen Kenntnisse. Auf Grund der Indizien, die sich aus
Latenzzeit und ersten Symptomen ergeben, wird der Pilz-
experte bereits eine bestimmte Fährte verfolgen. Anam-
nese, Rüst- und Speisereste, Sporenanalyse und qualitative
Testverfahren dienen der Bestätigung oder Verwerfung
eines Verdachts.
Phalloides-Syndrom
Die Bezeichnung wird abgeleitet vom Grünen Knollen-
blätterpilz, Amanita phalloides, auf dessen Konto weitaus
die meisten Amanitinvergiftungen zu buchen sind. Ama-
nitine findet man jedoch nicht nur im Grünen Knollen-
blätterpilz.
Giftpilze
} Amanita phalloides
Grüner Knollenblätterpilz, ein Begleiter von Eichen
und Edelkastanien. Man beachte die heimtückischen
Farbvarianten (Abbildungen 1 und 2).
} Amanita verna
Frühjahrs-Wulstling, ein weisser Laub- und Nadelwald-
bewohner, vorwiegend südlich der Alpen.
} Amanita virosa
Spitzkegeliger Knollenblätterpilz. Ein weisser Bewohner
von Nadelwäldern, mit flockigem Stiel und diskret
braunem, spitzbuckeligem Scheitel.
} Lepiota-Arten
Einige kleine, schwer unterscheidbare Schirmlinge, die
vor allem in den europäischen Mittelmeerländern recht
oft zu Vergiftungen führen.
} Galerina-Arten
Einige Häublinge, für Laien leicht mit den ebenfalls
Holz bewohnenden Stockschwämmchen zu ver-
wechseln. Vergiftungen sehr selten. Vorsicht: Häub-
linge fühlen sich im Holzhäcksel der Gartenanlagen
heimisch (Abbildung 3).
Pilzgifte
Das Pilzgift Amanitin wird unterteilt in α-, β- und γ-Ama-
nitin. Kein Pilz ist gründlicher erforscht worden als der
Grüne Knollenblätterpilz und seine weissen Verwandten.
Amanitine sind Octapeptide, bestehend aus einem Doppel-
ring von 8 Aminosäuren (Abbildung 4). Die Phallotoxine
sind Heptapeptide, die bei der Vergiftung keine fassbare

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Tabelle 1
Erste Symptome und Latenzzeiten
Hauptsymptome
Latenzzeit
Weitere Symptome
Brechdurchfall
0–4 h
4–24 h
} Phalloides-Syndrom
(+)
++
} Gyromitrin-Syndrom
(+)
++
} Gastrointestinales Frühsyndrom
++
} Indigestions-Syndrom
+
+
oft nur Übelkeit, Durchfall
} Muskarin-Syndrom
+
Miosis, Sudor, BD- und Pulsabfall
} Paxillus-Syndrom
+
tiefes Haptoglobin, Hämoglobinurie
} Pilzallergie
+
Exanthem, Asthma, Kollaps
Rauschzustand, Koordinationsstörung
0–4 h
4–24 h
} Pantherina-Syndrom
+
Mydriasis, BD- und Pulsanstieg, warme, trockene
Haut. Selten: cholinerge Symptomatik (Miosis,
Sudor, Puls- und BD-Abfall)
} Psilocybin-Syndrom
+
Psychodelie
Nierenversagen
2–20 d
} Orellanus-Syndrom
+
Durst, Nierenschmerz, Anurie
Exanthem, Atemnot, Pulsanstieg
0–4 h
4–24 h
} Coprinus-Syndrom
++
Hautrötung
} Pilzallergie
++
Durchfall, Erbrechen, Kollaps
Muskelschmerzen
1–3 d
} Equestre-Syndrom
+
brauner Urin
Schmerz in Händen und Füssen
1–2 d
} Acromelalga-Syndrom
+
Kribbeln, Oedem, Hautrötung
Nierenversagen, neurologische Störungen
14–21 d
} Pleurocybella-Syndrom
+
Epilepsie
} Polyporsäure-Syndrom
+
violetter Urin, Sehstörungen
Nierenschaden, Brechdurchfall
0–4 h
4–24 h
} Proxima-Syndrom
+
+
Angstreaktion
} kann alle Syndrome imitieren
+
Panik, Atemnot
grün: relativ häufige Situation
blau: seltene Ereignisse
rot: sehr seltene Ereignisse
Abbildung 1
Amanita phalloides,
olivgrüne Variante.
Abbildung 2
Amanita phalloides,
olivbraune Variante.
Abbildung 3
Galerina marginata, gefährlicher
Doppelgänger von Kühneromyces
mutabilis (Stockschwämmchen).

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Tabelle 2
Die verschiedenen Syndrome mit den auslösenden Toxinen und deren Wirkungen
} Phalloides-Syndrom
T: Amanitine
H: Lebergift, Protoplasmagift
B: löslich in Wasser und Methanol,
beim Trocknen und Kochen nicht
abgebaut!
} Gyromitrin-Syndrom
T: Gyromitrin, Monomethylhydrazin
H: Leber- und Nervengift
B: wasserlöslich, flüchtig beim
Trocknen und Kochen
} Orellanus-Syndrom
T: Orellanin
H: Nierengift
B: Tubulusatrophie, diagnostischer
Nachweis nur mittels Nierenpunktion
} Gastrointestinales Frühsyndrom
T: Verschiedene Gifte
H: Magen-Darm-Gifte
B: heterogene Gruppe, oft ungesät-
tigte Kohlenwasserstoffe
} Indigestions-Syndrom
T: individuelle Faktoren
H: Schwerverdaulichkeit
B: Rohgenuss, Kontaminationen,
üppige Mahlzeiten
} Muskarin-Syndrom
T: Muskarin
H: Nervengift, Parasympathicomi-
meticum
B: cholinerge Symptome
} Pantherina-Syndrom
T: Ibotensäure, Muscimol
H: Nervengift, «falscher
»
Neuro-
transmitter
B: Symptome anticholinergisch, selten
cholinergisch. Keine Muscarin-
Vergiftung!!
} Psilocybin-Syndrom
T: Psilocybin, Psilocin
H: psychoaktive Gifte, «falsche»
Neurotransmitter
B: Wirkung LSD-ähnlich, jedoch
schwächer
} Paxillus-Syndrom
T: Pilzantigen
H: Antigen-Antikörper-Reaktion
B: Immunhämolyse
} Coprinus-Syndrom
T: Coprin
H: Kreislaufgift
B: toxisch mit Alkohol → Antabus-
reaktion
} Pilzallergie
T: Pilzeiweiss
H: Sensibilisierung
B: auch auf Sporenstaub
} Equestre-Syndrom
T: unbekanntes Myolysin
H: Rhabdomyolyse*
B: selten toxisch, genetische Praedis-
position?
} Acromelalga-Syndrom
T: Acromelsäure
H: Glutamat-Agonist
B: bis anhin nur aus Frankreich und
Italien bekannt
} Pleurocybella-Syndrom
T: unbekannt
H: Nerven-/Nierengift
B: bis anhin nur aus Japan bekannt
} Polyporsäure-Syndrom
T: Polyporsäure
H: Nerven-/Nierengift
B: Urin violett
} Proxima-Syndrom
T: Allen-Norleucin
H: Nierengift
B: Tubulusatrophie, bis anhin nur aus
dem Mittelmeerraum bekannt
T: Toxine
H: Hauptwirkung
B: Bemerkungen
* Auflösung quergestreifter Muskulatur (Skelettmuskulatur, Herz, Zwerchfell)

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Rolle spielen. Amanitine blockieren die RNA-Polymerase
II. Dadurch wird die Transkription der mRNA gehemmt.
Der Eiweiss-Stoffwechsel bricht zusammen. Durch die
mannigfaltige Funktion der Proteine sind viele Stellen des
Organismus betroffen. Die Amanitine schädigen in erster
Linie die Leberzellen.
Amanitine werden im Magen-Darm-Trakt resorbiert und
sowohl hepatisch wie auch renal ausgeschieden. Ein be-
achtlicher Teil der resorbierten Amanitine unterliegt dem
enterohepatischen Kreislauf. Die Ausscheidung über die
Nieren versiegt, wenn der Organismus infolge der
schweren Brechdurchfälle austrocknet.
Die tödliche Giftmenge beträgt 0.1 mg α-Amanitin pro kg
Körpergewicht. Diese Menge ist in 5 – 50 g Frischpilzen
enthalten. Für Kinder sind bereits kleinste Mengen ama-
nitinhaltiger Pilze fatal.
Amanitine können im Urin, im Plasma, im Magensaft, im
Duodenalsaft und im Stuhl nachgewiesen werden.
Methode der Wahl ist heutzutage der ELISA (enzyme-
linked immunoabsorbent assay), welcher den RIA (Radio-
immunoassay) ersetzt. Im Urin können Amanitine während
maximal vier Tagen, im Plasma während zwei Tagen nach-
gewiesen werden. Da es sich um Momentaufnahmen
handelt, lassen sich aus der Höhe des Amanitingehaltes
keine prognostischen Schlüsse ziehen.
Verlauf
Abbildung 5 zeigt eine schematische Übersicht über die
Amanitin-Kinetik. Der Verlauf der Vergiftung lässt sich in
vier Phasen einteilen:
Die Latenzphase dauert in den meisten Fällen zwischen 8
und 12 Stunden. Sie kann jedoch auch extrem kurz (4
Stunden) sein oder sich ausgesprochen lange (24 Stunden)
hinziehen. Die gastrointestinale Phase dauert ungefähr 24
Stunden und wird durch die Übergangsphase abgelöst.
Dies ist eine Phase relativen Wohlbefindens mit einer Dau-
er von wiederum etwa 24 Stunden. Wurden bis zu diesem
Zeitpunkt keine adäquaten Massnahmen eingeleitet,
kommt es zur hepatorenale Phase, die sich durch Sympto-
me wie Gelbsucht, Quickabfall oder Nierenversagen äus-
sert.
Therapie
Das Phalloides-Syndrom ist trotz der eindrücklichen Ver-
besserung der Prognose eine schwere, potenziell tödliche
Vergiftung. Das erklärt auch die Tendenz zur Polypragma-
sie. Auf Grund der Therapievorschläge des International
Programme on Chemical Safety [4] und einer Metaana-
lyse von Enjalbert et al. [5] sowie einiger neuerer
Betrachtungen von Einzelfällen im Gebiet der Amanita-
intoxikationen lassen sich die Vorschläge folgendermassen
strukturieren:
Obligate Massnahmen:
} Magenspülung und Medizinalkohle in der Latenz-
phase, bei noch asymptomatischen Tafelgenossen,
ebenso in der gastrointestinalen Phase, wenn infolge
massiven Erbrechens die Kohle ihre Wirkung nicht ent-
falten kann.
} Rehydratation und Elektrolytersatz.
} Forcierte Diurese, ev. unter Kontrolle des zentralen
Venendrucks.
} Aktivkohle: Erwachsene 4 x 50 g täglich, während vier
Tagen, Kinder 4 x 1 – 2 g/kg Körpergewicht. Bei
häufigem Erbrechen Dosis erhöhen.
} Silibinin als Legalon
®
SIL, 5 mg/kg KG als Bolus inner-
halb einer Stunde, dann 20 mg/kg KG kontinuierlich
während 24 Stunden, je nach Verlauf während 2 – 4
Tagen. Wirkung: kompetitive Hemmung der Amanitin-
aufnahme in die Leberzellen.
} N-Acetylcystein-Infusionen während 20 Stunden (siehe
Arzneimittel-Kompendium) in Analogie zu den Erfol-
gen bei der Paracetamolvergiftung.
} Lebertransplantation. Der beste Parameter für einen
fatalen Verlauf ist ein Quickwert von < 21–25% bei
einem Kreatininwert von > 106 µmol/l [6].
} Schwangerschaft: Die Plazentabarriere bildet einen
weitgehenden Schutz, so dass sich kein Schwanger-
schaftsabbruch aufdrängt.
} Amanitine sind muttermilchgängig. Mit einem Still-
verbot von maximal 14 Tagen ist das Kind geschützt.
Kontrovers beurteilte Massnahmen:
} Frühe Hämoperfusion.
} Absaugen der Duodenalflüssigkeit ist verpönt wegen
einer erhöhten Blutungsgefahr. Bei frühem Einsatz,
d.h. vor dem Abfall des Quick, ist dieses Argument
nicht stichhaltig. Die Frage ist berechtigt, ob man im
Vertrauen auf die hohe Adsorptionsfähigkeit der Kohle
auf mechanische Massnahmen wie Magenspülungen,
Abbildung 4
Strukturformel der Amanitine.
Name
R
1
R
2
R
3
α−Amanitin
OH
NH
2
OH
β−Amanitin
OH
OH
OH
γ−Amanitin
OH
NH
2
H

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hohe Einläufe und Absaugen der Duodenalflüssigkeit
verzichten darf.
} Penicillin wird nur noch empfohlen, wenn kein Silibinin
verfügbar ist. Das Regenerationsvermögen der Leber ist
erstaunlich gross, und es ist nicht ungewöhnlich, dass
bei einem für die Lebertransplantation vorgesehenen
Patienten wider alle Erwartung eine Erholung eintritt. In
den letzten Jahren wird zur Stützung der Leber öfters
ein extrakorporelles Verfahren mit der Bezeichnung
MARS (Molecular Adsorbent Recirculating System) ein-
gesetzt. Dabei werden Giftstoffe durch humanes Se-
rumalbumin absorbiert. Vielleicht können in Zukunft
auch Infusionen von Hepatozyten Lebertransplantatio-
nen ersetzen [7].
Der ungewisse Ausgang eines Phalloides-Syndroms ist
immer noch der Grund dafür, dass man zögert, sich von
der Polypragmasie zu lösen. Die Behandlungsprotokolle
sind in den letzten Jahren einheitlicher geworden. Der
therapeutische Anteil der einzelnen Massnahmen lässt
sich jedoch nicht in Zahlen fassen. Die Vergiftung ist
immer noch mit einigen Imponderabilien belastet. Die
Weichen werden vor allem mit der Früherfassung und un-
verzüglichen Anwendung des Phalloides-Protokolls bei
allen Verdachtsfällen gestellt. So wurden an der slowaki-
schen Universität Banska Bystrika in den Jahren 1977 bis
2003 alle Kinder mit Brechdurchfällen und einer Latenz-
zeit von vier und mehr Stunden nach den jeweils aktuellen
Phalloides-Protokollen behandelt [8]. 34-mal handelte es
sich tatsächlich um ein Phalloides-Syndrom, in sechs Fällen
kam es zum Tod, wobei wiederum drei dieser Todesfälle
auf die Verschleppung des Falles zurückzuführen waren.
21-mal wurden im Nachhinein gastrointestinale Syndrome
oder Muskarinvergiftungen diagnostiziert. Die für den er-
wähnten Zeitraum erstaunlich niedrige kindliche Mortali-
tät von nur 17.6% lässt den Schluss zu, dass die Frühbe-
handlung als wichtiger prognostischer Faktor zu werten
ist. Überbehandlungen sind bei strikter Anwendung
obiger Kriterien nicht zu vermeiden und jedenfalls das
kleinere Übel.
Gyromitrin-Syndrom
Giftpilze
} Gyromitra esculenta
Frühjahrs- oder Speiselorchel, ein im Schweizer Floris-
tikgebiet seltener Ascomyzet mit rotbraunen, hirn-
artigen Windungen in Kahlschlägen, bei Strünken und
Reisighaufen. Häufig in den Pyrenäen, in Zentral- und
Osteuropa. Verwechslung mit Morcheln.
} Gyromitra gigas
Riesenlorchel, giftverdächtig.
} Gyromitra infula
Bischofsmütze, giftverdächtig.
Pilzgifte
Gyromitrin und sein Abbauprodukt Monomethylhydrazin
sind wasserlöslich und bei Zimmmertemperatur flüchtig.
Die tödliche Giftmenge wird für Kinder auf 10 – 30 mg
Gyromitrin pro kg Körpergewicht, für Erwachsene auf
20 – 50 mg pro kg Körpergewicht geschätzt. Die un-
glückliche Bezeichnung Speiselorchel darf nicht über ihre
Gefährlichkeit hinwegtäuschen. Zwar wird sie unbescha-
det verzehrt, wenn das Kochwasser weggeschüttet wird.
Grössere Mengen des Pilzgifts verdunsten zusätzlich beim
Kochen. Dennoch werden immer wieder schwere und
tödliche Vergiftungen beobachtet, wenn die Pilze nicht
gar gekocht werden, wenn das Brühwasser nicht
verworfen wird, und innerhalb von Tagen mehrere Lorchel-
gerichte konsumiert werden. Unterschwellige Toxin-
mengen überschreiten in letzterem Fall die Toleranzwerte.
Vor allem Kinder reagieren sehr empfindlich. In der
Schweiz ist der Handel mit Frisch- und Trockenlorcheln
verboten. Zwar sind die schmackhaften Trockenlorcheln
giftfrei, sie wurden jedoch wegen den im Tierversuch
nachgewiesenen krebsfördernden Eigenschaften mit dem
Bann belegt. In Finnland ist die Frühjahrslorchel ein Markt-
pilz [9]. Der Verkäufer ist jedoch verpflichtet, die Kunden
über die korrekte Zubereitung zu orientieren.
Abbildung 5
Schematische Übersicht über die Amanitin-Kinetik.
Amanitine
Latenzphase
(3)-8-12-(36)h
Gastrointestinale
Phase 24h
Übergangsphase
24h
Hepatische
Phase 24h
Erbrochenes
Nieren
Exsikkose
Nieren
Rehydratation
Nieren
Stuhl
Plazenta
Stuhl
Plazenta
Stuhl
Plazenta
Magen-Darm-
Trakt
Magen-Darm-
Trakt
Magen-Darm-
Trakt
Leber
Leber
Leber

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Abbildung 6
Cortinarius rubellus.
Verlauf und Therapie
Die Vergiftung mit Gyromitrin teilt die lange Latenzzeit
mit der Knollenblätterpilzvergiftung und manifestiert sich
mit Brechdurchfällen, zentralnervösen Störungen und
leichtem Ikterus. Eine spezifische Therapie ist nicht
bekannt. Bei lebensbedrohlichen Intoxikationen mit
Krämpfen und Koma wird Pyridoxin empfohlen.
Obwohl Gyromitra esculenta in Russland für 45% der
Pilzvergiftungen verantwortlich ist, ist dieses Syndrom
noch schlecht erforscht und nur dürftig dokumentiert.
Orellanus-Syndrom
Giftpilze
} Cortinarius orellanus
Orangefuchsiger Raukopf, ein orange- bis zimtbrauner
Laubwaldbegleiter.
} Cortinarius rubellus
Spitzbuckliger Raukopf, Nadelwaldbegleiter
(Abbildung 6).
Pilzgift
Orellanin ist ein Nierengift, das zu einer Tubulusnekrose
(Schädigung der Harnkanälchen) führt. Dieser Vergif-
tungstyp wurde 1962 in Polen von S. Grzymala anlässlich
einer Massenvergiftung mit 135 Erkrankten, darunter 19
Todesfällen, entdeckt [10]. Dieses Syndrom wurde bis
dahin verkannt, da es sich nicht mit den «klassischen»
Symptomen einer Pilzvergiftung – Brechdurchfälle inner-
halb von 24 Stunden oder Rauschzuständen – präsen-
tierte, sondern sich schleichend als Nierenversagen
darstellte. In der Folge lernte man, sich bei unklaren Fällen
von Nierenversagen nach mykophagen Gewohnheiten zu
erkundigen, und so wurden in fast allen Ländern Europas
immer wieder Orellaninvergiftungen beschrieben, bis an-
hin weit über 100.
Verlauf und Therapie
Die Patienten melden sich in der Regel erst spät beim Arzt.
Frühsymptome in Form von Erbrechen sind selten. Im
Verlauf einiger Tage erscheinen und verstärken sich die
Zeichen des Nierenversagens: Kopfschmerzen, Nieren-
schmerzen, Hypertonie, Durst, Versiegen der Urinproduk-
tion, Anstieg des Kreatinins, Späterbrechen als Ausdruck
der Urämie. Die Patienten erkennen dabei meist keinen
Zusammenhang mit einer um Tage bis 3 Wochen zurück-
liegenden Pilzmahlzeit. Da zum Zeitpunkt der ärztlichen
Intervention keine mykologische Analyse mehr möglich ist,
bleibt zur Bestätigung nur noch der Orellaninnachweis im
Nierenpunktat, der noch während einiger Monate möglich
ist. Leichtere Fälle heilen spontan, oft lässt sich die kritische
Phase mittels Hämodialyse überbrücken. In einigen Fällen
mit irreversiblem Nierenschaden landen die Patienten auf
der Warteliste für eine Nierentransplantation.
Gastrointestinales Frühsyndrom
Unter diesem Syndrom werden alle obligat toxischen Pilze
– es dürften etwa 200 Arten sein – mit Brechdurchfällen
und einer kurzen Latenzzeit von weniger als 4 Stunden
zusammengefasst. In der Regel erkranken alle Teilnehmer
einer Pilzmahlzeit, ganz im Gegensatz zur Indigestion, bei
der individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Die Abgren-
zung zwischen der Intoxikation und der Indigestion ist
künstlich mit einer breiten Zone fliessender Übergänge.
Ein Problem sind Mischgerichte, die ausnahmsweise ver-
schiedene Giftpilze enthalten. Dabei hat das Früh-
erbrechen eine positive Wirkung, indem z.B. Knollen-
blätterpilze schon in ihrer Latenzphase auf natürliche
Weise eliminiert werden.
Abbildung 7
Boletus satanas.

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Giftpilze
Einige typische Vertreter der obligat toxischen Pilze, welche
das gastrointestinale Frühsyndrom verursachen, sind:
} Agaricus xanthoderma
Karbolegerling, ein weisser, gilbender Champignon
mit penetrantem Karbolgeruch, besonders an der an-
gekratzten Stielbasis.
} Boletus satanas
Satansröhrling mit roten Röhrenmündungen und silber-
grauem Hut (Abbildung 7).
} Entoloma sinuatum
Riesenrötling mit zunächst gelben, später rosa Lamellen
und Mehlgeruch, Laubwaldbewohner.
} Lactarius helvus
Maggipilz, ein nach Maggi riechender Milchling mit
wässriger Milch, vor allem in sauren Nadelwäldern.
} Omphalotus olearius
Ölbaumpilz. Goldgelber bis gelboranger, trichterig
niedergedrückter Holzbewohner (Ölbäume, Edel-
kastanien, Eichen), besonders im Mittelmeer-Gebiet.
Oft verwechselt mit Eierschwamm!
} Tricholoma tigrinum
Tigerritterling mit weissen Lamellen und Mehlgeruch.
Laub- und Nadelwaldbewohner.
} Paxillus involutus
Kahler oder Empfindlicher Krempling, brauner, oliv-
brauner Pilz mit eingerolltem Hutrand und gelblichen,
auf Druck sich braunschwarz verfärbenden Lamellen.
Obwohl nicht obligat toxisch kommt es zu schweren
und selten tödlichen Vergiftungen bei Kindern, wenn
der Pilz nicht gar gekocht wurde. Siehe auch Paxillus-
Syndrom.
Pilzgifte
Verursacht wird das gastrointestinale Frühsyndrom haupt-
sächlich durch Sesquiterpene und Triterpene. Der Karbol-
egerling enthält Phenol, welches für dessen giftige
Wirkung verantwortlich ist. Die Heterogenität der unter
diesem Syndrom zusammengefassten Pilze erklärt, dass
weitere, noch unbekannte Toxine für die Beschwerden
verantwortlich sind.
Verlauf und Therapie
Die Behandlung ist rein symptomatisch, insbesondere der
Wasser- und Salzhaushalt müssen sorgfältig überwacht
werden. Todesfälle sind extrem selten.
Indigestions-Syndrom
Die Indigestion umfasst alle Unbekömmlichkeiten nach
Pilzgenuss, bei denen individuelle Faktoren, Rohgenuss
und zu reichliche Mahlzeiten eine zentrale Rolle spielen.
Auch essbare Pilze sind schwerverdaulich infolge ihres
Chitingehaltes. Sehr aufschlussreich bezüglich der Ver-
daulichkeit von Pilzen ist ein Selbstversuch von Tschudi
und Schmid [11]. Die beiden Ärzte reinigten ihre Därme
mit zwei Litern Fordtran-Lösung. Nach sechs Stunden ver-
zehrten sie 100 g Zuchtchampignons aus einer Konserve.
Die eine Hälfte der Fruchtkörper wurde ganz, die andere
halbiert konsumiert. Die ersten Pilze erschienen nach 12,
die letzten nach 72 Stunden im Stuhl. Die Anzahl der
Fragmente entsprach der eingenommen Stückzahl. Das
Gewicht der Pilze nahm von 107 g auf 49 g bzw. 102 g
auf 40 g ab.
Unbekömmlichkeiten aufgrund der Schwerverdaulichkeit
von Pilzen werden auch als unechte Vergiftungen be-
zeichnet, eine nicht besonders glückliche Bezeichnung.
Unter diese Rubrik fallen zudem Beschwerden infolge
falscher Zubereitung und Kontamination mit Herbiziden,
Fungiziden, Insektiziden und Bakterien, besonders Salmo-
nellen, die oft in Trockenpilzen asiatischer Provenienz
nachgewiesen werden, wobei sich die Erreger beim Ein-
weichen in Wasser stark vermehren. Deshalb sollte das
Einweichen nur wenige Minuten dauern. Botulismus
durch eingemachte Pilze ist sehr selten. Bei Clitocybe
nebularis, der Nebelkappe, und bei Armillaria mellea, dem
Hallimasch, muss das Brühwasser verworfen werden. Die
knackige Russula olivacea, der Rotstielige Ledertäubling,
wird besonders von Italienern oft gegrillt. Dabei wird der
Pilz nicht genügend gegart und Indigestionen bleiben in
diesen Fällen nicht aus.
Magen-Darm-Verstimmungen sind generell häufig, wer-
den jedoch nur selten gemeldet. Die Symptome sind meist
weniger dramatisch als bei den echten Vergiftungen und
die Latenzzeiten häufig länger als 4 Stunden.
Muskarin-Syndrom
Dieses seltene, unverkennbare Syndrom wird nach Genuss
einiger Arten weisser, schmächtiger bis mittelgrosser
TrichterlingeundeinigerRisspilzebeobachtet.Vergiftungen
sind selten, obwohl muskarinhaltige Vertreter von Trichter-
lingen und Risspilzen sehr verbreitet sind. Weisse Pilze
werden von Erwachsenen gemieden, während Kinder sie
attraktiv finden. Risspilze sind meist unscheinbar und
klein, nicht einladend und selbst für Mykologen ohne das
Mikroskop nicht voneinander zu unterscheiden.
Giftpilze
Zwei giftige Doppelgänger von Speisepilzen sind:
} Clitocybe dealbata
Feldtrichterling, leicht zu verwechseln mit Clitopilus
prunulus, dem Mehlpilz.
} Inocybe erubescens
Ziegelroter Risspilz (Abbildung 8), Frühjahr und Früh-
sommer, Verwechslung mit Calocybe gambosa, dem
Maipilz.

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Pilzgift
Einzig das L(+)-Muskarin ist giftig. Die Stereoisomere allo-,
epi- und epiallo-Muskarin sind ohne toxikologische
Bedeutung.
Die Vergiftung mit Amanita muscaria, dem Fliegenpilz, ist
keine Muskarinvergiftung. Sie wird unter dem Pantherina-
Syndrom abgehandelt.
Verlauf und Therapie
Die Vergiftung mit ihrer cholinergen Symptomatik ist
leicht zu erkennen: Brechdurchfälle mit kurzer Latenzzeit
von 15 Minuten bis 2 Stunden, Schweissausbrüche, kalte,
feuchte Haut, Tränenfluss, Speichelfluss, langsamer Puls
(Bradykardie), Asthma und enge Pupillen (Miosis). Das
klassische Antidot ist Atropin. Bei Erwachsenen beträgt
die Dosis 1 – 2 mg, alle 30 bis 60 Minuten bis die Symp-
tome verebben. Bei Kindern verabreicht man 0.05 mg pro
kg Körpergewicht in entsprechenden Zeitabständen.
Pantherina-Syndrom
Giftpilze
} Amanita muscaria
Fliegenpilz.
} Amanita regalis
Königsfliegenpilz, ein seltener, stattlicher, brauner Pilz
mit der gleichen gelben Färbung unter der Huthaut
wie beim Fliegenpilz.
} Amanita pantherina
Pantherpilz (Abbildung 9), ein brauner Verwandter des
Fliegenpilzes. Wird oft mit Amanita rubescens, dem
Perlpilz, verwechselt.
Pilzgifte
Verantwortlich für das Pantherina-Syndrom sind die
Ibotensäure und das 5 – 10-mal wirksamere Muscimol,
ein dem Serotonin strukturell sehr ähnlicher «falscher»
Neurotransmitter. Das Pantherina-Syndrom ist keine
Muskarinvergiftung, wie fälschlicherweise immer wieder
postuliert wird. Obwohl der Name des Giftes darauf
schliessen lässt, ist der Muskaringehalt in Fliegenpilzen
toxikologisch unbedeutend.
Verlauf und Therapie
Nach 15 Minuten bis 2, manchmal 4 Stunden manifestiert
sich die Vergiftung mit Schläfrigkeit, Schwindel, einem
Rauschzustand mit Benommenheit und Koordinations-
störungen. Typisch sind anticholinerge Symptome wie
Tachykardie (rascher Puls), Mydriasis (Pupillenerweiterung)
und eine warme, trockene Haut. Selten dominieren choli-
nerge Zeichen wie Bradykardie (langsamer Puls), Miosis
(Pupillenverengung), Schweissausbrüche und Speichel-
fluss [12]. Erregungszustände, Wutausbrüche und Halluzi-
nationen sind nicht aussergewöhnlich. Die Vergiftung
mündet in ein stundenlanges Koma, aus dem die Patienten
oft ohne Erinnerung an das Vorgefallene erwachen. Das
Koma kann bis zu 24 Stunden dauern. Ebenso wurden
tagelang anhaltende «Nachwehen» in Form paranoider
Episoden beschrieben [13]. Da Muscimol die physiolo-
gischen Reizübertragungen vor allem im zentralen Nerven-
system empfindlich stört, lassen sich Halluzinationen
zwanglos erklären. Die Suche nach einem zusätzlichen
Halluzinogen erübrigt sich. Toleranzen gegenüber dem
Fliegenpilzgift sind sehr selten, Drogenexperimente sehr
riskant.
Die Behandlung richtet sich nach den Symptomen. Atropin
ist kontraindiziert ausser bei überwiegend cholinerger
Symptomatik (Miosis, Bradykardie, Schweissausbrüche).
Bei Erregtheit sollte keine Magensonde eingeführt
werden.
Abbildung 8
Inocybe erubescens.
Abbildung 9
Amanita pantherina.

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Psilocybin-Syndrom
Psilocybinhaltige Pilze finden sich in verschiedenen Gat-
tungen. Sie haben seit einigen Jahrzehnten die Drogen-
szene als Freizeitdroge erobert, während akzidentelle
Vergiftungen extrem selten sind. Bis anhin umfasst die
Liste der Psilocybinpilze weltweit mehr als 100 Arten in
sechs Gattungen. Einige davon sind selten, infolge ihrer
Kleinheit schwer zu entdecken, oft nur mikroskopisch
genau zu bestimmen. Andere wiederum sind lokal ver-
breitet. Einige lassen sich leicht züchten und gelangen auf
verschiedenen Kanälen zu den Liebhabern.
Giftpilze
Die folgende Liste beinhaltet nur eine kleine Auswahl von
psilocybinhaltigen Pilzen.
} Psilocybe semilanceata
Spitzkegeliger Kahlkopf (Abbildung 10), verbreitet in
extensiv bewirtschaftetem Gelände bis hinauf zu den
Alpweiden.
} Psilocybe cubensis
Kubanischer Kahlkopf, wird als Drogenpilz vor allem in
Holland gezüchtet.
} Inocybe aeruginascens
Grünverfärbender Risspilz. Lokal verbreitet, besonders
im Osten Deutschlands. Hat zu akzidentellen Vergif-
tungen geführt.
Pilzgifte
Psilocybin und Psilocin sind in ihrer Wirkung mit LSD ver-
gleichbar. Die Wirkung ist jedoch wesentlich schwächer.
Trockenpilze enthalten je nach Art und Kollektion 0.1 –
1.0% Psilocybin. 1 g Trockenpilz entspricht 10 g Frisch-
pilz. Die für einen Volltrip erforderliche Dosis ist in 1 – 5 g
Trockenpilzen enthalten.
Verlauf und Therapie
Der Trip beginnt nach 15 Minuten bis 2 Stunden mit Kopf-
weh und Schwindel. Anschliessend folgt eine 4 – 6
Stunden dauernde psychische Desintegration durch den
dem Serotonin strukturell sehr ähnlichen falschen Neuro-
transmitter. Der Verlauf wird beeinflusst durch Erwartungs-
haltungen, persönliche Eigenheiten und Drogener-
fahrung. So präsentiert sich eine breite Palette von Symp-
tomen in verschiedenen Mischungen: Angst, Unruhe,
Schläfrigkeit, Glücksgefühl, Enthemmung, Gewalttätig-
keit, Halluzinationen, kaleidoskopartige Phantasiegebilde,
Desintegration von Raum und Zeit und Ego. Nach einigen
Stunden ist der Spuk meist vorüber. Die Dunkelziffer der
Konsumenten ist sehr gross. Nur wenige beanspruchen
ärztliche Hilfe unter dem Einfluss eines «bad trip» oder
eines bedrohlichen «flashback», oder wenn sie mit der
Aufarbeitung des Erlebten nicht klarkommen. Je nach
Situation werden Beruhigungsmittel verabreicht.
Paxillus-Syndrom
Paxillus involutus (Abbildung 11). Der Kahle Krempling
hat eine Besonderheit, die ihn von anderen Schadpilzen
unterscheidet. Zwar verursacht dieser Massenpilz bei
mangelhafter Zubereitung und wiederholtem Genuss
öfters schwere Brechdurchfälle, weshalb er bereits unter
dem gastrointestinalen Frühsyndrom erwähnt wurde.
Gelegentlich sind die Brechdurchfälle von einer Hämolyse
(Zersetzung der Erythrozyten mit Freisetzung des Hämo-
globins) begleitet. Das auslösende Agens – ein strukturell
Abbildung 10
Psilocybe semilanceata.
Abbildung 11
Paxillus involutus.

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nicht näher definiertes Eiweiss – induziert die Bildung von
Antikörpern, die von Mahlzeit zu Mahlzeit zu immer dras-
tischeren Reaktionen führen. Diese Reaktion ist keine Ver-
giftung im engeren Sinne, sondern eine Sensibilisierung
durch Bildung von Antikörpern, die zu einer Immunhämo-
lyse führen und damit einer allergischen Reaktion
ähneln.
Das Paxillus-Syndrom stellt sich folgendermassen dar: Bei
wiederholtem Genuss Kahler Kremplinge im Abstand von
Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren kommt es immer
wieder zu Brechdurchfällen, wobei die Latenzzeiten
immer kürzer und die Beschwerden immer drastischer
werden. Bei frühen Episoden muss die Hämolyse gesucht
werden (tiefe Haptoglobinspiegel im Serum, positiver
Hämagglutinationstest nach Lefèvre), denn erst bei der
zweiten oder dritten Episode wird die Hämolyse durch die
Rotfärbung des Urins augenfällig.
Bei 7 gut dokumentierten Fällen wurden insgesamt 19
hämolytische Zwischenfälle beschrieben [14]. Ein Patient
starb an den Folgen der Immunhämolyse. Vermutlich ent-
halten Kahle Kremplinge ein starkes Antigen, und die er-
wähnten Fälle sind vielleicht nur die Spitze des Eisberges, da
mittlerweilen auch 1 Fall von Immunhämolyse nach wieder-
holtem Genuss von Butterpilzen beobachtet worden ist.
Coprinus-Syndrom
Giftpilze
} Coprinus atramentarius
Faltentintling, ein ei- bis glockenförmiger, grauer bis
graubrauner Tintling.
} Boletus torosus
Ochsenröhrling, ein seltener stark blauender Röhrling
mit roten Röhrenmündungen.
Pilzgift
Coprin blockiert den Abbau des Alkohols auf der Stufe
des Aldehyds. Zur Vergiftung kommt es nur, wenn wäh-
rend oder bis zu vier Tagen nach der Pilzmahlzeit Alkohol
genossen wird.
Verlauf und Therapie
Die Vergiftung entspricht einer Antabusreaktion: plötz-
liches Hitzegefühl, Beengung, Atemnot, Gesichtsröte,
Erythem des Rumpfes, Schwindel, Herzklopfen und Brust-
schmerzen einige Minuten nach dem Alkoholgenuss. Bei
starker Erregung sind Beruhigungsmittel angezeigt. Zur
Behandlung solcher Aldehydvergiftungen werden Ascor-
binsäure, Eisen i.v. und Cystein i.m. empfohlen.
Pilzallergie
Wie bei einigen andern Nahrungs- und Genussmitteln
werden auch bei Pilzen allergische Reaktionen beobachtet.
Sie äussern sich besonders häufig in Form von Brechdurch-
fällen. Die Abgrenzung gegenüber dem gastrointestinalen
Frühsyndrom und der Indigestion ist nicht immer möglich.
Reproduzierbarkeit der Symptome und positive Hauttests
sprechen für eine Allergie. Weitere allergische Symptome
sind Hautausschläge, Schleimhautschwellungen, Asthma
und Kreislaufkollaps sowie Symptome, die einzeln oder in
verschiedenen Kombinationen auftreten können.
Sonderformen sind die Shiitake-Dermatitis nach Genuss
von rohen oder ungenügend gegarten Pilzen, die seltenen
Ekzeme nach Hautkontakten, die Immunhämolyse beim
Paxillus-Syndrom und die Pilzzüchterlunge durch Ein-
atmen von Sporenstaub. Hier lassen sich zwei Typen un-
terscheiden: eine asthmatische Frühreaktion Minuten
nach Einatmen von Sporenstaub und eine Spätreaktion
mit Verzögerung von einigen Stunden mit Fieber,
Schwindel und Thoraxschmerzen.
Pilze sollten nicht in geschlossenen Räumen gezüchtet
werden. Problemlos sind Champignons, wenn sie vor der
Sporenreife geerntet werden.
Equestre-Syndrom
Giftpilz
} Tricholoma equestre
Grünling, ein olivgelber, gelbbrauner Ritterling mit gel-
ben Lamellen. Der Name Gelbling wäre zutreffender
(Abbildung 12)!
Pilzgift
Das Toxin von Tricholoma equestre ist ein Myolysin. Es ver-
ursacht eine Rhabdomyolyse (Zersetzung der quer-
gestreiften Muskulatur: Skelettmuskulatur, Herzmusku-
latur und Zwerchfell).
Verlauf und Therapie
24 bis 72 Stunden nach mindestens drei konsekutiven
Grünlingsmahlzeiten erkranken die Patienten an Muskel-
schwäche und Muskelschmerzen vor allem in der Lenden-
region und an den Oberschenkeln, Atemnot bei Zwerch-
fellbefall und Rhythmusstörung bei Herzbeteiligung. Der
Urin wird braun, die Kreatinkinase im Serum kann auf
schier unglaubliche Werte (bis 632’000 U/l, Normalwert:
167 – 190 U/l) ansteigen. Eine spezifische Therapie ist
nicht bekannt.
Kommentar
Der Grünling war seit jeher ein geschätzter Speisepilz, bis
in Frankreich zwischen 1992 und 2000 12 Fälle von
Rhabdomyolysen beobachtet wurden, wovon drei tödlich

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Pannen mit Pilzen
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verliefen [15]. Zwei weitere Fälle mit günstigem Ausgang
wurden aus Polen gemeldet [16]. Im Tierversuch an
Mäusen wurde mit Grünlingsextrakten ebenfalls ein
Anstieg der Kreatinkinase festgestellt. Auf Grund dieser
Fakten wurde er zum Giftpilz erklärt. Trotzdem wird er in
Frankreich, Spanien und Italien anscheinend weiterhin
unbeschadet (?) verzehrt [17]. Von einiger Brisanz ist ein
Artikel von Nieminen et al. [18]. In derselben Versuchsan-
ordnung wie beim Grünling wurden Mäusen pulverisierte
Täublinge, Eierschwämme, Schafporlinge und Birkenrot-
kappen verfüttert. Auch in dieser Studie wurde ein An-
stieg der Kreatinkinase festgestellt. Beim Versuch an 56
Freiwilligen, wovon 27 unter einer Behandlung mit
Statinen standen, wurde kein Anstieg der Kreatinkinase
beobachtet. Einzig bei gleichzeitiger Gabe von Statinen
und Fibraten wurde eine Erhöhung der Kreatinkinase auf
das Doppelte der Norm festgestellt [19]. Diese Beobach-
tungen lassen die Fragen aufkommen, ob der Grünling
doch ein Speisepilz ist und ob auch andere Speisepilze
unterschwellige Mengen eines Myolysins enthalten. Auch
die Option, dass nur Personen mit einem angeborenen
oder erworbenen Stoffwechseldefekt erkranken, scheint
möglich. Die Situation ist unbefriedigend und bedarf
weiterer Abklärungen.
Akromelalga-Syndrom
Giftpilz
} Clitocybe amoenolens
Wohlduftender Trichterling, ein kleiner bis mittel-
grosser, brauner Blätterpilz.
Pilzgift
Der Inhaltsstoff von Clitocybe amoenolens ist die Acro-
melsäure, ein Glutamatagonist, der über die Glutamat-
rezeptoren die peripheren, sensorischen Nervenendigun-
gen der Akren reizt.
Abbildung 12
Tricholoma equestre.
Verlauf und Therapie
Etwa 24 Stunden nach der Pilzmahlzeit äussert sich die
Vergiftung in Parästhesien, Schmerzen, Brennen, Rötun-
gen und Schwellungen an Händen und Füssen. Die
Schmerzattacken dauern einige Stunden, sind quälend
und mit Schmerzmitteln schwer zu dämpfen. Die
Besserung lässt Tage bis Wochen auf sich warten.
In Japan wurde dieses Syndrom schon 1918 beschrieben,
ausgelöst durch die Clitocybe acromelalga, einen der
Clitocybe amoenolens nahe stehenden Trichterling. 1996
wurde dieser Vergiftungstyp in Frankreich [20] und 2002
in Italien bekannt [21].
Pleurocybella-Syndrom
Giftpilz
} Pleurocybella porrigens
Ohrförmiger Seitling, ein rein weisser, spatel- bis ohr-
förmiger Pilz mit bis zu 8 cm langen und 5 cm breiten
Fruchtkörpern. Der Pilz wächst an Rot- und Weiss-
tannen, in Nordeuropa auch an Föhren, in China an
Eucalyptus robusta und in Japan an Cedrus japonica.
Pilzgift
Die Natur des Toxins, welches das Syndrom auslöst, ist un-
bekannt. Aufgrund der Symptome wird vermutet, dass es
sich um ein Nerven- und Nierentoxin handelt.
Verlauf und Therapie
Das Syndrom äussert sich durch Zittern, Sprachstörungen,
Trübung des Bewusstseins, Muskelkrämpfe und epilep-
tische Anfälle. Gefährdet sind Patienten mit chronischen
Nierenleiden, die hämodialysiert werden müssen. Die Be-
handlung ist symptomatisch.
Kommentar
Die Vergiftung ist erst seit 2004 und bis anhin nur aus
Japan bekannt.
Nach einem regenreichen August hat der Herbst 2004 mit
einer Fülle üppiger Sugihiratake (Seitlinge, die Amerikaner
nennen den Pilz «Angel Wing») aufgewartet, die doppelt
so gross waren wie in früheren Jahren. Die Vergiftungen
wurden an neun japanischen Dialysezentren bei Nieren-
kranken beobachtet, die 2 bis 3 Wochen zuvor Seitlinge
konsumiert hatten. Von 524 Nierenpatienten hatten 278
vom reichlichen Pilzaufkommen profitiert. Von 52 vergif-
teten Personen starben deren 15. Man weiss nicht, ob der
Pilz ein Neurotoxin enthält, welches bei einer Nierenin-
suffizienz nicht mehr ausgeschieden werden kann, oder
ob es sich um ein neuro- und nephrotoxisches Toxin mit
zwei Zielorganen handelt. Auch könnte die toxische Reiz-
schwelle nach üppigem und wiederholtem Genuss über-
schritten werden. Der Ohrförmige Seitling ist in der
Schweiz selten.

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Polyporsäure-Syndrom
Giftpilz
} Hapalopilus rutilans
Zimtfarbener Weichporling an totem Holz von Buchen,
Birken, Weisstannen, von zimtbrauner bis ockerbrauner
Farbe. Bildet Konsolen von 2 bis 12 cm Breite und 1 bis
8 cm Tiefe und einer Dicke von 3 cm. Der Pilz ist zäh,
schwammig und verfärbt sich mit Laugen violett.
Pilzgift
Für das Syndrom verantwortliches Toxin ist die Polypor-
säure.
Verlauf und Therapie
Auch korkige, zähe Pilze sind vor angefressenen Pilz-
sammlern nicht sicher. Es ist nur eine kollektive Vergiftung
von 3 Personen bekannt geworden [22]. 12 Stunden nach
dem Mahl erkrankten alle an Übelkeit, Erbrechen, Kopf-
schmerzen und Sehstörungen. Es kam zu einem Anstieg
der Transaminasen als Ausdruck der Leberbeteiligung und
zu Nierenversagen. Der Urin war bei allen Patienten violett
verfärbt. Beim 7-jährigen Knaben war der Verlauf durch
ein Hirnödem kompliziert. Die drei Vergifteten erholten
sich ohne Residuen. Die Therapie ist rein symptomatisch.
Proxima-Syndrom
Giftpilz
} Amanita proxima
Falscher Eierwulstling, ein weisser Blätterpilz, der sich
von Amanita ovoidea, dem echten Eierwulstling, durch
gelborange bis fuchsrote Hüllreste an der Stielbasis
und einen schmächtigeren Habitus unterscheidet. Er
kommt in der Mittelmeerregion vor.
Pilzgift
Für das Proxima-Syndrom verantwortliches Gift von Ama-
nita proxima ist Allen-Norleucin, ein Nephrotoxin.
Verlauf und Therapie
Nach einer variablen Latenzzeit von 4 – 24 Stunden mani-
festiert sich die Vergiftung mit Brechdurchfällen und einer
leichten Leberbeteiligung. Nach drei bis vier Tagen kulmi-
niert der Nierenschaden mit Anurie und Anstieg des Krea-
tinins. Die Prognose ist gut. De Haro et al. berichten über
31 Ereignisse mit 53 Vergifteten. 11-mal musste die
kritische Phase mit Hämodialysen überbrückt werden
[23]. Vergiftungen wurden bis jetzt nur im Mittelmeer-
raum beobachtet.
Fazit
Auch wenn sich Indigestionen infolge schwer verdaulicher
Anteile in Pilzen nicht immer eindeutig von toxischen
Brechdurchfällen abgrenzen lassen, ist dies ohne prak-
tische Bedeutung: Mit Medizinalkohle und allfälligen
Korrekturen des Wasser- und Salzhaushaltes ist man fürs
erste auf dem rechten Weg. Die einzige Ausnahme stellen
Brechdurchfälle mit Latenzzeiten von mehr als 4 Stunden
dar. Diese sind bis zum Beweis des Gegenteils verdächtig
auf ein Phalloides-Syndrom und als solches zu therapieren.
Einige seltene Syndrome sind zudem atypisch und ent-
sprechen nicht der populären Vorstellung einer Pilzver-
giftung mit ihrem gastrointestinalen oder neurologischen
Erscheinungsbild. Sie werden daher oft verkannt. Insbe-
sondere in Anbetracht des durchschnittlichen pro-Kopf-
Konsums von 3 kg Wild- und Zuchtpilzen pro Jahr gilt
deshalb grundsätzlich, bei gastrointestinalen Beschwerden
die Anamnese mit der Frage nach mykophagen Vorlieben
zu ergänzen.

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Pannen mit Pilzen
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Autor
Dr. med. René Flammer
Fichtenstrasse 26
9303 Wittenbach
rene.flammer@freesurf.ch